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  • Sven Scheffel

Vogesenumrundung mit dem Rad

7 Tage - 558 km – 4930 Hm ↑ - 4930 Hm

Da war es, das letzte und langersehnte Hinweisschild vor dem Pass des Grand Ballon, welches mir mitteilte, dass ich nur noch einen Kilometer durchhalten musste, bis ich endlich am höchsten Punkt meiner Tour stehen konnte. Plötzlich schob sich ein holländischer Biker vor mich, zückte sein Handy und rief mir zu: „Ich muss Ihnen mal kurz die schöne Aussicht stehlen“, dann drückte er auch schon ab, um das Schild zu fotografieren. Ich antwortete, dass wir die schöne Aussicht wohl erst in einem Kilometer haben werden, er könne das Schild deshalb gerne für sich behalten. Wir lachten, stiegen beide wieder auf den Sattel und quälten uns mit müden Beinen den letzten Kilometer hinauf. Doch am besten erzähle ich von Anfang an.

18 Tage Urlaub lagen vor mir und ich überlegte, ein paar Tage wandern zu gehen. Inspiriert von der Reisedoku „Anderswo“, in der Anselm Pahnke mit seinem Fahrrad Afrika durchquerte, kam ich dann jedoch auf die Idee, wieder mal eine Radtour zu unternehmen. Die letzte Mehrtagestour, eine Durchquerung der Schweiz, lag schon eine Ewigkeit zurück und irgendwie packte mich die Lust.

Natürlich sollte es ein schön angelegtes Projekt sein. Etwas, bei dem sofort klar ist, um was es geht. Zuerst hatte ich die Idee einer Umrundung der Rheinebene. Vielleicht könnte ich aber auch einen Campingplatz in die Tour integrieren, auf dem sich meine Frau Antje und einige Freunde an einem Wochenende treffen wollten. So verwarf ich den Gedanken der Umrundung der Rheinebene und es setzte sich irgendwann die Idee einer Tour rund um die Vogesen durch. Das Projekt „Vogesenumrundung“ war geboren.

Sechs Tage radeln, den Samstag mit Freunden auf einem Campingplatz verbringen und Sonntag dann auf der siebten Etappe wieder nach Hause. Das klang nach einem guten Plan!

Nun hatte ich gerade mal eine Woche Zeit für die Planung. Montags bin ich in den Reisebuchladen geradelt um Kartenmaterial zu kaufen. Mit diesem saß ich vor dem Computer und plante mit Komoot eine geeignete Route. An dieser Stelle mal ein großes Lob an die Jungs aus dem Reisebuchladen in Karlsruhe. Selten findet man ein Fachgeschäft, mit solch fitten Leuten. Ein Laden, in dem ich wirklich gerne Bücher und Karten kaufe.

Mein Reisegefährt sollte mein 20 Jahre alter „Schutterblitz“ sein. Ein Rad, dass ich im Jahr 2000 in einem kleinen lokalen Fahrradladen, dem „Radhiesli“, zusammenbauen ließ. Dank des Stahlrahmens der Fahrradmanufaktur und den Deore LX-Komponenten, traute ich dem Rad auch nach 20 Jahren noch eine längere Tour zu. Zum Check ging es noch einmal in die Werkstatt. Dort wurden die Kette und die Zahnkranzkassette ausgewechselt und Zuhause gab es noch einige kleinere Reparaturen. Mein Fahrrad war startklar. Dahinter konnte ich also einen Haken machen. Mitte der Woche buchte ich Campingplätze. Bis auf die fünfte Nacht, konnte ich bis zum Tourstart alle Übernachtungen klar machen. Equipment checken, Lebensmittel einkaufen und plötzlich war es Sonntagmorgen und der Wecker klingelte. Um 7.15 Uhr war ich auf der Straße. Das war alles ziemlich spontan.


Etappe 1 – Rheinstetten bis Wasselonne

Frühmorgens radelte ich Zuhause los. Es war noch frisch und ich trug unter dem Shirt ein Langarmunterhemd. Im Vergleich zum Morgen, sollte es nachmittags aber sehr heiß werden. Gleich am ersten Tag lagen über hundert Kilometer vor mir, deshalb der frühe Start. Ziel war die kleine Stadt Wasselonne, am Fuß der Vogesen.

Bis ich die Grenze nach Frankreich überqueren konnte, legte ich noch ca. 30 Kilometer auf deutschem Boden zurück. Geplant war, bei Plittersdorf mit der Fähre den Rhein zu überqueren. In Plitterdorf angekommen stellte ich fest, dass ich für den Fährbetrieb viel zu früh dran war. Das hatte ich nicht bedacht. Also weiter nach Wintersdorf. Dort konnte ich den Rhein auf einer urigen Stahlbrücke überqueren. Vor der Brücke steht noch immer das alte Grenzhäuschen. Mittlerweile ziemlich zerfallen. Ich schieße ein paar Fotos und denke, so gefallen mir Grenzen am besten. Auf der Brücke gab es noch ein paar Fotos vom bepackten Schutterblitz, der kurze Zeit später schon durch das erste elsässische Dorf rollte. Im übernächsten Dörfchen gab es eine Frühstückspause, mit dem ersten echten französischen Croissant, einem Quarkküchle und einer Orangina aus einer Boulangerie. Ich saß mitten auf dem kleinen Dorfplatz und dachte, das fühlt sich ziemlich nach Urlaub an.

Meine weitere Route führte mich von Nordosten, auf einer Diagonalen über Brumath, nach Südwesten. Genau zwischen den Städten Hagenau und Straßburg hindurch. Mein Vorhaben war, alle größeren Städte zu meiden und einen Bogen drum herum zu machen. Zu viele Autos, zu viel Lärm. Die Route führte mich nun durch wunderschöne Dörfer mit viel Charme. Die Landschaft wurde hügelig und es erinnerte mich optisch ein wenig an die Toskana. In dem kleinen Städtchen Marlenheim wollte ich gerade vom Fahrradweg auf eine Straße wechseln, als mir jemand etwas zurief. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mountainbiker, der mich zu sich rüber winkte. Der Mountainbiker hieß Volker, lebt hier in der Ecke und wies mich darauf hin, dass der Radweg auf der linken Seite weiter gehen würde und die Straße nicht zu empfehlen sei. Volker fragte mich in gebrochenem Englisch, wo ich genau hin möchte. Der Camping Municipal in Wasselonne sollte mein heutiges Ziel sein. Volker meinte, den kenne er und er könne mich begleiten. Er möchte in die Berge und das würde auf seinem Weg liegen. So hatte ich die letzten 5 km des ersten Tages eine hilfreiche Begleitung. Das war wirklich eine nette Geste und ich muss sagen, dass ich das Elsass die nächsten Tage weiterhin auf diese Art und Weise erleben sollte. Nette und offene Menschen, die ohne Vorurteile auf mich zugingen und keine Berührungsängste zeigten. Während der Fahrt zum Campingplatz unterhielten wir uns und mir fielen Volkers fast verheilten, großflächigen Wunden am Arm und am Bein auf. Ich fragte ihn, ob er Downhill fahren würde und zeigte dabei auf sein Bein. Er schaute an sich herunter, schaute mich an und erwiderte mit strahlendem Gesicht: „YES!“. Am Campingplatz angekommen wünschten wir uns gegenseitig viel Glück, bevor sich unsere Wege wieder trennten.

Der erste Tag war geschafft. Er war lang und es war heiß. Nach 106 Kilometern war ich doch ziemlich platt. Zelt aufbauen, duschen, Shirt und Radunterhose auswaschen, Kaffee kochen, auf der Isomatte chillen. Später Abendessen kochen und dann schlafen. Mehr passierte am ersten Tag nicht mehr.


Etappe 2 – Wasselonne bis Rouffach

Morgens um 6.00 Uhr klingelte der Wecker meiner Uhr. Da ich die ersten Tage lange Strecken zu fahren hatte und es wieder heiß werden sollte, nahm ich mir vor sehr früh aufzustehen. So hatte ich dann den Spätnachmittag zum Ausruhen und ggf. konnte ich noch Wäsche auswaschen, die zum Abend hoffentlich trocknen würde. Trotz des frühen Aufstehens, war ich erst um 7.30 Uhr auf der Straße. Frühstücken, Equipment sortieren und packen nahm doch einige Zeit in Anspruch.

Heute standen 108 km an und es ging schnurstracks nach Süden. Der Wetterbericht teilte mir mit, dass ich leichten Rückenwind haben werde. Perfekt! Ziel war das kleine Städtchen Rouffach, südwestlich von Colmar. Zunächst ging es zurück nach Marlenheim und weiter an den Weinbergen entlang Richtung Obernai. Die Landschaft war nun ziemlich hügelig und stramme Anstiege und erholsamen Abfahrten wechselten sich munter ab. Ich folgte dem malerischen Radweg „Routes des Vin“, vom dem ich jedoch irgendwo nach Obernai abkam. Um auf den Weg zurück zu finden, irrte ich ungefähr dreißig Minuten auf verzweigten Schotterwegen in den Weinbergen umher. Nachdem ich einsah, dass dies keinen Sinn machen würde und mein leerer Magen so langsam am Bewusstsein anklopfte, suchte ich mir einen Weg über die Landstraße in das Dörfchen Epfig. Dort fragte ich mich zu einer Boulangerie durch, in der ich mich mit einem Croissant und einem Eclair versorgte. Die Bäckersfrau erklärte mir, dass die deutsche Übersetzung für Eclair „Liebesknochen“ lautet. Das hörte ich zum ersten Mal und fand es ziemlich witzig.

Auf dem Dorfplatz sitzend, erregte ich die Aufmerksamkeit von vier Jungen im Alter von 9 bis 12 Jahren. Neugierig wurde ich beobachtet. Irgendwann sprach mich einer der Buben auf Französisch an. Wir verständigten uns mit Händen und Füßen und ein paar Brocken Englisch. Eine elsässisch sprechende Passantin die kurze Zeit später vorbei kam, übersetzte einige Fragen der Jungs. Sie wollten wissen wo ich herkomme, wo ich hin möchte und was ich mit der Kamera fotografiere. Es fand ein ganz interessantes Gespräch statt, an dessen Ende mich der kleinste der Jungen gestikulierend darauf aufmerksam machte, dass ich noch unbedingt die Kirche fotografieren müsse. Winkend verabschiedete mich die Gruppe und ich setzte meinen Weg fort.

Zu meiner Rechten passierte ich irgendwann die Hochkönigsburg und zu meiner Linken tauchte der Kaiserstuhl auf. Ich fand es faszinierend, wie intensiv man mit dem Rad einerseits doch mit der Landschaft verbunden ist und trotzdem kam man ziemlich zügig voran. Die Gegend veränderte sich stetig. Viel schneller als beim Wandern, aber doch langsamer als im Auto, sodass man sich trotzdem noch mit der Natur und Landschaft im Kontakt wähnte. Am Abend des zweiten Tages konnte ich es kaum glauben, dass ich schon so weit im Süden war.

Bis Rouffach radelte ich viel durch Weinberge und romantische Weindörfchen, die fast schon ein wenig kitschig wirkten. Ungefähr auf der Höhe von Colmar, tauchte dann auch das erste Mal das Hohneck und dahinter der baumlose Gipfel des Grand Ballon auf. Respektvoll, aber auch mit Vorfreude dachte ich, dort würde es Morgen hochgehen. Am späten Nachmittag erreichte ich den kleinen Campingplatz am Zielort, wo mich eine erfrischende eiskalte Dusche erwartete. Auch dort begegnete ich wieder interessanten Menschen. Abends sprach ich längere Zeit mit einem belgischen Ehepaar und anschließend mit zwei holländischen Radreisenden, die ich unterwegs beim Überholen auf einer schattigen Wiese liegen sah. Interessant war auch ein längeres Gespräch mit dem Vater einer Familie aus der Schweiz, die wie ich, mit dem Rad unterwegs war. Sie starteten in der Schweiz und hatten Heidelberg als Ziel. Die Familie sah ziemlich gut organisiert aus und beeindruckte mich. Der Vater erzählte mir, dass sie solche Touren machen, seitdem die Kinder klein sind und schon viel erlebten. Egal ob mit dem Rucksack oder mit dem Rad, irgendwie öffnet diese Art unterwegs zu sein immer Kontakte zu anderen Menschen. Spannend!


Etappe 3 – Rouffach bis Gèrardmer

Bevor um 6.00 Uhr der Wecker klingelte, war ich schon wach. Geweckt wurde ich von wildem Storchengeklapper. Kurz musste ich darüber nachdenken, dass ich gestern an einem abgemähten Feld vorbeifuhr, auf dem ich 13 Störche zählen konnte. Das war wirklich beeindruckend, denn noch nie sah ich so viele Storche an einem Fleck zusammenstehen.

Heute stand die Königsetappe an. Es sollte auf den 1325 m hohen Pass des Grand Ballon gehen. Am Col de La Schlucht würde ich dann auf die andere Seite der Vogesen nach Gérardmer abfahren, wo ich einen Campingplatz reservierte, auf dem wir vor zwei Jahren schon einmal mit Freunden und den Campingbussen standen.

An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass meine Vogesenumrundung im Grunde keine richtige Umrundung ist. Offiziell oder um es genau zu nehmen, hätte ich noch weiter in den Süden fahren müssen, um durch die Burgundische Pforte bei Belfort zu radeln. Die Burgundische Pforte bildet einen Sattel zwischen dem Jura und den Vogesen und trennt diese beiden Gebirge. Im Vorfeld plante ich jedoch, schon vorher nach Osten abzubiegen und direkt das Gebirge zu durchqueren. Die Burgundische Pforte hätte mich sicher noch einmal einen Tag zusätzlich gekostet und ich hatte große Lust, auch ein wenig in den Bergen unterwegs zu sein.

Komoot führte mich nach dem Start in Rouffach zunächst auf eine zweispurige Straße, vor der ich eine Vollbremsung hinlegte. Ein kurzer Blick in die Karte, ließ mich eine alternative Strecke über einen Feldweg und kleinere Ortschaften finden. Das war zwar ein kleiner Umweg, aber Sicherheit ging vor. Unterwegs sah ich einen großen Wasserwerfer im Feld stehen, in dessen feinem Feuchtigkeitsnebel sich durch die tiefstehende Sonne ein Regenbogen bildete. Erstmal eine Fotopause einlegen, dieses Motiv konnte ich mir nicht entgehen lassen.

Anschließend ging es durch Soultz Haut-Rhin, wo ein Schild nach dem Ortsausgang den Start der Bergetappe ankündigte. Zunächst sollte es auf eine Passhöhe, den Col Amic, gehen und von dort aus auf der alten Militärstraße „Route des Crêtes“ zum Grand Ballon hoch. Die Steigung bis zum Col Amic betrug 4,8 %, zum Grand Ballon hinauf waren es bis zu 8,2 %. Beim Anblick dieser Daten begann ich zu schwitzen ohne die Pedale zu treten. Als ich starten wollte, stoppte neben mir ein älterer Mann auf dem Rennrad. Er war beeindruckt von meinem Gepäck. Möglicherweise hatte er auch etwas Mitgefühl, als er mein Rad sah. Auf Französisch und mit Händen gestikulierend erklärte er mir, wie der Streckenverlauf aussieht und was mich unterwegs erwarten würde. Zwar spreche ich kein Französisch, aber seine ausdrucksstarke Performance ließ mich erahnen, was er mir mitteilen wollte. Er zog davon und ich schlich hinterher.

17,5 Kilometer ging es nun stramm bergauf. Bis zum Col Amic fuhr ich auf einer schmalen Straße durch geschlossenen Wald. Hin und wieder überholten mich Gruppen von Rennradfahrern und vereinzelt mal ein Auto. Es herrschte eine entspannte Stimmung und es war sehr idyllisch. Mit 6 km/h kroch ich den Berg hoch. Nach jedem bewältigten Kilometer stand ein Schild und teilte mir mit, auf welcher Höhe ich mich gerade befand und wie viele Kilometer noch vor mir lagen. Am Pass bog ich dann auf die Route de Crêtes ein. Die Landschaft öffnete sich und es bot sich eine tolle Fernsicht auf den fernen Schwarzwald.

Das Publikum auf der Straße veränderte sich leider auch. Neben den Rennradfahrern waren jetzt auch unglaublich viele Autos und Motorräder unterwegs. Grundsätzlich bin ich gegen Pauschalverurteilungen, aber zeitweise hatte ich den Eindruck, die Dichte der Verrückten und Idioten war dort oben besonders hoch. Der Gipfel des Wahnsinns war wohl die Situation, als mich ein Auto langsam überholte und dieses im gleichen Moment von einem anderen Raser überholt wurde. Einfach irre!

In einer Kurve standen irgendwann plötzlich mehrere Rennradfahrer zusammen. Einen anderen Rennradfahrer legte es auf der Abfahrt in der Kurve hin. Das Rad lag am Straßenrand und sein Fahrer schoss über den Abgrund in den Wald. Als ich dazu kam, kletterte er gerade wieder die Böschung hoch. Unverletzt. Schon etwas verrückt, da ist man in einer so tollen Landschaft unterwegs, die im Grunde zur „Entdeckung der Langsamkeit“ einlädt und trotzdem haben viele Verkehrsteilnehmer nichts Besseres zu tun, als sich der gnadenlosen Raserei und Selbstüberschätzung hinzugeben. Dabei bilden sie nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern auch für andere.

Nach 16,5 km, literweise verlorenem Schweiß und mehreren Pausen, stand ich also vor dem Schild welches mir mitteilte, dass ich es gleich bis zum höchsten Punkt meiner Vogesenumrundung geschafft hatte. Als nach einem weiteren Kilometer dann das Schild „Le Grand Ballon“ in Sichtweite kam, jubelte ich innerlich. Im Vorbeifahren klatschte ich es ab und rief ein lautes „Jaaaa!“ Einige Passanten beäugten mich dabei etwas seltsam. Es war ein unheimlich befreiendes Gefühl, nach den Stunden der Anstrengung, des Durchhaltens und Aufrechthalten der Motivation, dieses Zwischenziel zu erreichen. Ich war überwältigt!

Oben angekommen gab es ein kleines Mittagsessen und ich dachte viel über die letzten Stunden nach. Dabei genoss ich das Gefühl, diese schwierige Aufgabe bewältigt zu haben. 2010 fuhr ich mit einem Freund den „Col de la Schlucht“ hoch und damals mussten wir große Teile der Strecke schieben. Dieses Mal bin ich tatsächlich jeden Meter geradelt und das mit 23 kg Gepäck. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Die Wirtin des kleinen Restaurants riss mich aus meinen Tagträumen und fragte, ob es denn schmecken würde. Ich versicherte ihr, nie etwas Besseres gegessen zu haben.

Gewappnet mit Fleece- und Regenjacke, begab ich mich auf der anderen Seite des Passes auf die Abfahrt. Mehrere Kilometer ging es nun rasant bergab, was ein unheimliches Glücksgefühl auslöste. Eine Eigenschaft des Radfahrens ist, insbesondere in den Bergen, dass die Belohnung unmittelbar nach der Anstrengung folgt. Was das auf der Motivationsebene mit einem macht und verhaltenspsychologisch auslöst, finde ich hochinteressant. Mir fiel sofort eine Metapher dazu ein. Könnt ihr euch an die kleinen Aufziehautos der Darda-Bahn erinnern? Auf meiner Bergauffahrt war es so, als würde man den Motor eines dieser Autos langsam aufziehen. Die Bergabfahrt war nun wie das Loslassen des Autos. Alle angestaute Energie wurde explosionsartig freigesetzt und die Entspannung folgte.

Bis zum Col de La Schlucht waren es noch ca. 30 Kilometer. Nach einigen Kilometern Abfahrt, schlängelte sich die Straße nun an den Bergen entlang. Anstiege wechselten sich ab mit kleineren Abfahrten. Es ging vorbei am Markstein und irgendwann an Bergen die ich von Wanderungen her kenne. Rainkopf, Kastelberg, Hohneck und plötzlich lag die Passhöhe La Schlucht vor mir. Nach dem Grand Ballon wurde auch der Verkehr deutlich weniger und ich konnte die grandiose Landschaft nun in vollen Zügen genießen. Am Col de la Schlucht ging es rasant den Berg hinunter nach Xonrupt und Gérardmer. Ich war auf der Ostseite der Vogesen angekommen.

Mit zwei Eis in der Hand, saß ich auf einer Holzbank vor der Campingplatzrezeption und dachte: „Was für ein Ritt!“

Den Abend verbrachte ich nach dem Kochen am Seeufer in einem kleinen Biergarten und plante den nachfolgenden Tag. Morgen stand Regen an.


Etappe 4 – Gèradmer – Celles-Sur-Plaines

Nachts fing es schon leicht an zu regnen. Als ich morgens erwachte war es jedoch trocken. Schnell packte ich mein Equipment, bevor es wieder zu regnen begann. Das Frühstück sparte ich mir und wollte es irgendwo im Städtchen nachholen. Nachdem ich startklar war, öffneten sich wie auf Knopfdruck die Himmelsschleusen und es begann richtig zu gießen. Glück gehabt! Für einige Minuten stellte ich mich noch am Badhäuschen unter. Der Chef des Platzes gesellte sich zu mir und fragte wohin es gehen soll. Er empfahl mir noch zwei Stunden zu warten. Der Wetterbericht sagte mir jedoch zuvor, dass es den ganzen Tag regnen sollte. Zwei Stunden Aufschub würden mir also nichts bringen. Mit Regenklamotten und den wasserdichten Schuhen, sollte das auch so gehen. Heute würde ein „Augen-zu-und-durch-Tag“ sein.

Zunächst machte ich einen Stopp in einer Boulangerie. Dort kaufte ich mir zwei Schokocroissants und einen Kaffee. Auf der Terrasse stehend aß ich mein Frühstück, blickte in das trübe Wetter und bereitete mich innerlich auf die Wasserschlacht vor.

Zunächst radelte ich an der Vologne entlang, einem kleinen Fluss der weiter oben in den Bergen entspringt. Nach einiger Zeit bog ich Richtung St. Die-des-Vosges ab. Es wurde wieder hügeliger und ich fuhr abwechselnd durch Waldstücke und kleine Dörfer. In Taintrux beschloss ich eine Pause einzulegen. Ein Café das ich ansteuerte, entpuppte sich als Glücksspielbar. Als ich meinen Kaffee vor mir stehen hatte, stellte ich außerdem fest, dass in der Bar geraucht wurde. Sowas hatte ich ja echt schon lange nicht mehr. Kaum zu glauben, dass dies früher überall Gang und Gäbe war. Der Situation entkam ich, indem ich den Kaffee umschüttete, kurz das Lokal putzte, bezahlte und dann schnell verschwand.

St. Die-des-Vosges war die einzige größere Stadt in die ich hinein fuhr. Ich brauchte dringend ein Mittagessen. Meine Wahl fiel auf einen Kebap-Laden, in dem es einen leckeren Veggie-Döner gab, zubereitet vom mürrischsten Imbisschef der Welt. Möglicherweise fand er es doof, dass ich meine Regenklamotten zum Trocknen ausbreitete. Vermutlich lag es aber an den fehlenden Kunden, die bei diesem Wetter nicht vor die Tür gingen. Meine Highlights waren an diesem Tag wohl definitiv die Mahlzeiten, denn vielmehr gab es nicht zu berichten. Vielleicht noch der Fauxpas des Tages. Kurz nach Étival folgte ich einem total schönen Radweg, ohne darauf zu achten, ob ich vielleicht irgendwo abbiegen müsste. Nach einiger Zeit kontrollierte ich das GPS und stellte fest, dass ich blindlinks in ein falsches Tal gefahren bin. 30 Minuten Zeit verplempert. So ein Mist! Am späten Nachmittag kam ich in Celles-Sur-Plain auf dem Campingplatz an. Die zwei Stunden vor der Ankunft konnte ich tatsächlich ohne Regenklamotten fahren. Es kam sogar ein wenig die Sonne raus. Natürlich begann es gerade dann wieder zu regnen, als ich das Zelt aufstellen wollte. Nun hieß es weitere 30 Minuten unter einem Baum ausharren, bis es endlich aufhörte. Petrus hatte irgendwann ein Einsehen und wir schlossen Frieden miteinander.

Um die Zeit totzuschlagen bis am Abend die Campingbar öffnete, in der es ein warmes Essen geben sollte, setzte ich mich in das Publikum zu einem französischen DJ. Der ältere Herr hinter den Reglern unterhielt Kinder und Eltern mit Ratespielen. Es wurden Songs gespielt und wer als erstes Titel und Interpret erraten konnte, erhielt ein Werbegeschenk. Ich verstand zwar kein Wort, aber nach dem ersten Bier der Tour fand ich diese Veranstaltung ziemlich unterhaltsam und zog es bis zum Ende durch. Die Leidenschaft und Performance des älteren Herrn war wirklich grandios und oscarreif!


Etappe 4 – Celles-Sur-Plaine bis Keskastel

Für die fünfte Nacht hatte ich noch keinen Übernachtungsplatz. Nachdem ich am Vortag noch einige Male vergeblich auf einem Campingplatz anrief, klingelte plötzlich mein Handy und die Leiterin des Campingplatzes in Keskastel war am anderen Ende. „Ich habe Ihre Nummer mehrmals gesehen und wollte einfach mal zurück rufen“, sagte sie. Das fand ich wirklich eine nette Geste und so konnte ich doch noch telefonisch einen Zeltplatz für die nächste Nacht reservieren.

Morgens weckten mich Kirchenglocken. Dummerweise hatte ich einen Schlafplatz direkt neben der Kirche. Wieder entschied ich mich ohne Frühstück zu starten. In Badonviller, welches etwa 10 km entfernt lag, wollte ich mir eine Boulangerie suchen. Zunächst ging es aber steil den Berg hinauf, in ein kleines Dörfchen namens Pierre-Pércée, was am gleichnamigen See lag. Im Internet wird die Gegend auch mit „Kleines Lothringer Kanada“ angepriesen. Die ersten Kilometer durch den Wald erinnerten mich tatsächlich etwas daran. Jedenfalls hatte ich die Vorstellung, dass es in Kanada so aussehen könnte, denn in Wirklichkeit war ich noch nie dort.

Den Vormittag über fuhr ich durch eine sehr hügelige Landschaft, die sich nun immer weiter öffnete und es bot sich bald eine tolle Fernsicht. Es gab viele Weiden mit Schafen, Kühen oder Pferden. Daneben dominierten viele gelbe, schon abgemähte Getreidefelder. Irgendwann stellte ich fest, dass ich mittlerweile weit von den Bergen entfernt war und keinen Gipfel der Vogesen mehr sehen konnte.

Interessant war der Vergleich zu den Dörfern auf der Ostseite der Vogesen. Dort hatte man den Eindruck, dass vieles sehr herausgeputzt wirkte und Touristen viel Geld in die Weinregion brachten. Hier im Westen war alles viel ursprünglicher. Es gab augenscheinlich viel Landwirtschaft, viel Zerfall und einfache Lebensweise. Alles wirkte auf eine gewisse Art echter, authentischer und nicht so aufgesetzt. Beim Durchradeln beschlich mich das Gefühl, als wäre ich in einer Zeitmaschine 40 Jahre in die Vergangenheit zurück gereist. Vor meiner Abreise war die Westseite der Vogesen ein blinder Fleck für mich. Ich hatte keine Vorstellung wie es dort, auf der anderen Seite, aussah. Luftlinie waren es nur ca. 90-100 km nach Deutschland, doch ich hatte das Gefühl, tief in Frankreich und sehr weit weg von Zuhause zu sein. Die Westseite gefiel mir insgesamt sehr gut. Es war ein wenig, als würden sich die Uhren dort deutlich langsamer bewegen, als ich es von Zuhause gewohnt war.

Kurz vor Gondraxange begann es wieder leicht zu regnen. Ich stoppte an der ersten Boulangerie, denn es war schon wieder Mittagszeit. Drinnen sah alles sehr improvisiert und chaotisch aus. Der Backofen stand direkt hinter der Verkaufstheke und daneben etwas verloren die kleine Kaffeemaschine. Alles wirkte wie ein krusteliger Tante-Emma-Laden aus meiner Kindheit. Die Bäckerei wurde offensichtlich von zwei jungen Männern betrieben, die mich sehr nett empfingen. Ich bestellte ein Baguette, das obligatorische Croissant und einen Kaffee. Danach räumte ich einen Barhocker frei der in der Ecke stand und setzte mich. Eine Weile schaute ich dem Treiben zu und stellte fest, dieser Laden gefiel mir. Er war nicht durchgestylt wie viele Läden in Deutschland und besaß dadurch unheimlich viel Charme und Persönlichkeit. Nach einer Weile begann ich mich mit einem Kunden zu unterhalten. Mit Raimund sprach ich eine Weile über die Sprachgrenze und wollte wissen, ob die Menschen auf der Westseite der Vogesen auch noch elsässisch sprechen würden. Er erzählte mir, dass bei der Stadt Sarrebourg die Grenze verlaufen würde. Östlich davon spreche man noch deutsch, westlich davon nicht mehr. Raimund selbst sprach deutsch, weil er eine frühere Firmenkundin in Rheinland Pfalz hatte, mit der er oft telefonieren musste. Dadurch konnte er viel üben. Raimund war mir total sympathisch und wieder war da eine dieser Begegnungen, die ich als eine Bereicherung empfand.

Weiter ging es im strömenden Regen. Am Ende von Gondraxange bog ich auf den Saar-Radweg ein, der mich nun für 35 km an einem Kanal entlang führen sollte. Teilweise verlief der Kanal mitten durch eine Seenlandschaft, was sehr ungewöhnlich wirkte. Insbesondere auf der Landkarte sah das sehr skurril aus. Meine Frau schickte mir später einen Screenshot der „Wo ist?“-Funktion ihres iPhones, auf dem ich mich auf der Karte mitten in einem See befand. Sie schrieb dazu: „Der, der über das Wasser radelt.“ Die Gegend wirkte sehr einsam, was wohl daran lag, dass ich der einzige war der im Regen unterwegs zu sein schien. Nachdem sich das Wetter besserte, kamen mir irgendwann auch wieder die ersten Radfahrer entgegen. Scheinbar war dieser Abschnitt bei Radreisenden sehr beliebt.

Auf dem Kanal waren etliche Hausboote unterwegs, die immer wieder an den vielen Schleusen stoppen mussten, um sich auf den nächsten Abschnitt heben zu lassen. Das Radeln auf dem Radweg am Kanal war ziemlich entspannt, da es keine Steigungen gab und nur geradeaus ging. Irgendwann wurde es aber auch ein wenig eintönig.

In Keskastel angekommen, trocknete ich erst einmal mein Zelt, kochte einen Kaffee und aß meine letzten staubtrockenen Biokekse. Interessant fand ich, wie schnell sich der Körper doch an die tägliche Bewegung gewöhnt. Nach dem ersten Tag war ich noch total erschöpft. Mittlerweile war ich abends recht fit und spürte kaum etwas von der sportlichen Belastung. Auch meinem Hintern ging es sehr gut und das lange Sitzen auf dem Sattel bereitete ihm keine Probleme. Im Vorfeld las ich, dass viele Radler Gesässcremes nutzen, um zu vermeiden, dass sie sich einen Wolf fahren. Ich hatte eine Creme von Sixtus dabei, die ich in der Apotheke bestellte und kann diese nur weiterempfehlen! Druckstellen usw. waren die komplette Tour absolut kein Thema.


Etappe 5 – Keskastel bis Fleckenstein/Lembach

Heute Nachmittag sollte ich meine Frau Antje, Cesco und einige Freunde wieder sehen. Ziel ist der Camping du Fleckenstein in Lembach, direkt an der Grenze zu Rheinland Pfalz. Dort enden die Vogesen und gehen über in den Pfälzer Wald. Geologisch gesehen gehören beide Gebirge jedoch zusammen. Mit 70 Kilometer sollte heute eine moderate Distanz vor mir liegen. Allerdings musste ich 730 Höhenmeter bewältigen. Den Regen hatte ich hinter mir und es sollte wieder ein sonniger Tag werden. Sehr schön!

Vor Montbronn ging es erst einmal steil den Berg hoch. Eine anschließende steile Abfahrt, lies noch einmal meine Bremsen glühen.

Den heutigen Zwischenstopp legte ich in dem Städtchen Bitche ein. Dort setzte ich mich vor einem Café zu einem älteren Herrn an den Tisch, vor dem ein schnittiges und den Komponenten nach zu urteilen, teures Mountainbike stand. Betze war sein Spitzname. Diesen erhielt er von seinen Freunden, da er früher oft ins Stadion zum 1. FC Kaiserslautern ging. Betze kam aus der Pfalz, was er durch seinen breiten Dialekt nicht verstecken konnte. Wir unterhielten uns sicher eine halbe Stunde und dabei erfuhr ich, dass er während der Zeit, in der in einigen Orten in der Pfalz noch eine große Schuhindustrie angesiedelt war, in der selbigen arbeitete. Später wurde er LKW-Fahrer und genoss die Freiheit viel rum zu kommen. Betze war Radfahrer mit Leidenschaft. Eigentlich würde er gerne mal über die Alpen fahren, erzählte er. Er habe aber Höhenangst, deshalb lasse er das besser bleiben. Gerne würde er auch Mehrtagestouren radeln und fragte mich über mein Equipment aus. Nach unserem Gespräch meinte er, dass er das jetzt mal angehen werde, da es meiner Beschreibung nach wohl nicht so kompliziert sei. Betze war 69 Jahre alt und beeindruckte mich. Nach dem Städtchen Bitche ging es lange Zeit an einem großen Militärgelände vorbei. Eine Weile begleiteten mich Schüsse, was sich ein wenig gruselig anfühlte. Am frühen Nachtmittag kam ich dann bei Pascal auf dem Campingplatz an. Heute lies ich es laufen. Witzig war, dass Antje und Cesco fast zeitgleich eintrafen. Perfektes Timing!

Später dachte ich, es ist schön wieder mal in der Gesellschaft von vertrauten Menschen zu sein.


Etappe 7 – Lembach bis Rheinstetten

Letzter Tourtag. Ich war ein wenig wehmütig, da ich mich doch daran gewöhnt hatte täglich auf dem Rad zu sitzen und draußen unterwegs zu sein. Andererseits war aber auch die Aussicht schön, wieder nach Hause zu kommen. Die berühmten zwei Herzen in der Brust.

Nach einem späten Frühstück kroch ich zur Burg Fleckenstein hoch. Komoot und die Karte sagten mir, dort gäbe es einen Radweg nach Wissembourg. Nachdem ich eine Weile auf verschiedenen Mountainbiketrails umher irrte, nahm ich dann doch wieder die Straße zurück zum Campingplatz und radelte durch Lembach. Von dort aus stieg die Etappe noch einmal an. Vor mir lag der letzte Pass, der Col du Pigeonnier. Nach kurzer Abfahrt aus dem Wald heraus, lag dann wieder die Rheinebene unter mir. Unten am Fuß der Berge tauchte das romantische Städtchen Wissembourg auf und am Horizont konnte ich schon die Türme des Dampfkraftwerkes im Karlsruher Rheinhafen sehen. Lange radelte ich an dem Grenzflüsschen Lauter entlang und wechselte dabei irgendwann auf die deutsche Seite. Das merkte ich nur daran, dass die Ortsschilder plötzlich eine andere Farbe besaßen. In Neuburg ging es mit der Fähre über den Rhein, ein Stückchen durch den Wald und über einen Feldweg kam ich zu unserem Haus. Da wären wir wieder. Mein 20 Jahre alter Schutterblitz hat mich doch tatsächlich zuverlässig um die Vogesen herum getragen. Respektvoll parkte ich ihn im Fahrradport, denn nun durfte er in seinen wohlverdienten Urlaub.



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