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  • Sven Scheffel

Westweg 2020 - Etappe 03

° Schutzhütte am Draberg bis Schwarzenbachtalsperre

° 12,1 km - 474 Hm ↑ - 714 Hm ↓


Mein knurrender Magen weckte mich gegen 5:30 Uhr. Ich sollte abends mehr essen. Gegen 6:00 Uhr kroch ich aus dem warmen Schlafsack, warf den Kocher an und machte Kaffee. Dabei nutze ich die Abwärme des Kochers, um mir meine klammen Hände zu wärmen. Den Kaffee trank ich mit Blick auf das nebelverhangene Murgtal. Es ist noch kalt und feucht, aber die Stimmung ist toll! Meine Kamera wird sich freuen. Als ich sie auspacke stelle ich fest, dass der eingelegte Akku leer ist. Seltsam. Nach weiterer Untersuchung diagnostiziere ich, dass scheinbar der On/Off-Schalter defekt ist. Mist, das hatte ich schon einmal. Das bedeutet, um die Kamera an- und auszuschalten, musste ich die nächsten zwei Tage immer den Akku einlegen und wieder rausnehmen. Ärgerlich! Am ersten Wandertag flog mir die Gegenlichtblende des Objektivs auseinander, die ich zur Reparatur mit Panzertape am Objektiv fixierte und heute das. Für die restlichen zwei Tage muss ich nun mit meinem letzten Akku auskommen. Drei hatte ich insgesamt dabei. Das wird interessant und ich sollte darauf achten, die Energie nicht für unsinnige Fotos zu verballern. Nach dem Frühstück packe ich mein Equipment zusammen, stieg in die noch klammen Klamotten vom Vortag, verabschiedete mich von den drei anderen Wanderern und lief los.



Heute erwartet mich eine kurze Etappe, da ich einen Schlafplatz direkt am See auswählte. Eine Hütte die ich von einer anderen Tour her kenne und die landschaftlich sehr schön liegt. Außerdem wollte ich den See nutzen, um mich nach drei Wandertagen richtig zu waschen. Ein Unterwäschewechsel wäre auch mal angebracht. Es ging also hinab nach Forbach ins Murgtal, wo ich Lebensmittel für die Tage 3 und 4 kaufen wollte. Mehr als 700 Höhenmeter Abstieg standen an. Darauf freuten sich meine Knie schon.


Direkt nach der Hütte am Draberg, tauchte ich in einen mystischen Märchenwald ein. Der Wald lag im Nebel und eine tiefe Stille und andächtige Stimmung begleiteten mich. Ein wenig beschlich mich das Gefühl, mich mitten in einer Geschichte von J.R.R. Tolkien zu befinden. Wundervoll! Es überkam mich das Verlangen, stundenlang fotografieren zu wollen. Doch was war das? Ich hörte ein Geräusch. Irgendwie klang es wie die Hufen eines Pferdes. Scheinbar spielt mir die durch den Nebel veränderte Akustik einen Streich. Kurz lachte ich auf und fotografierte weiter. Der Wald bot im Nebel wirklich unglaublich viele stimmungsvolle Motive. Genial! Plötzlich hörte ich wieder etwas. Ich nahm den Akku aus der Kamera, hängte sie mir um und lauschte angestrengt in die Stille. Einen kurzen Moment später erkannte ich die Quelle des Geräuschs. Das gibt es nicht! Schnell sprang ich vom Pfad bergabwärts und versteckte mich unter einer riesigen Baumwurzel. Dort versuchte ich konzentriert meine Atmung in den Griff zu bekommen. Mist, auf der anderen Seite des Pfades lehnten noch meine Wanderstöcke an einem Baum, die ich dort platzierte, um besser fotografieren zu können. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich wusste nicht, wie ich mich in dieser Situation adäquat verhalten sollte. Also erstmal abwarten und mich bedeckt halten. Das Geräusch kam näher, es war jetzt sehr deutlich zu hören. Es stoppte über mir auf dem Pfad. Stille. Ein irrer Gestank breitete sich schlagartig in der Luft aus und ich zwang mich, mich nicht zu übergeben. Ich tastete nach meinem Messer, was sich jedoch im Rucksack befand. Hilflos streifte mein Blick über den vor mir liegenden Waldboden und erspähte in drei Metern Entfernung einen dicken Ast, den ich notfalls als Waffe benutzen konnte. Mit einem beherzten Sprung müsste dieser erreichbar sein. Allerdings galt es schnell zu sein, denn viel Zeit würde ich nicht bekommen, um zu reagieren. Eine starre Lähmung erfasste meinen Körper, als ich ein Röcheln über mir hörte. Meine Pulsuhr zeigte eine Herzfrequenz von 152 Schlägen pro Minute an. Komisch, dass man in solch einer Situation auf seine Uhr schaut. War das nicht eigentlich der Zeitpunkt, an dem das eigene Leben vor dem inneren Auge vorbei ziehen sollte? Plötzlich konnte ich wieder atmen. Der Gestank verdünnte sich mit der guten Waldluft und ich nahm wahr, wie sich das Geräusch langsam entfernte. Sollte ich einen Blick wagen? An der nach Walderde riechenden Wurzel zog ich mich ein Stück nach oben und sah, wie zwanzig Meter weiter ein schwarzes Pferd im Nebel verschwand. Von Hinten konnte ich den Reiter nicht erkennen, aber er trug eine schwarze Kutte mit Kapuze, die seitlich vom Pferd hing. Für einen kurzen Moment gab die Kutte einen Blick auf ein langes Schwert frei, das bedrohlich an der Seite des Reiters hing. Dann nur noch Stille und Fassungslosigkeit.


Ihr Lieben, wäre es nach Annette Schlindwein und dem Schriftsteller Andreas Prodehl gegangen, wäre meine Geschichte genauso wie oben beschrieben weitergegangen. Aber ich möchte meinem Tourenbericht ja nichts hinzudichten. Von daher drücke ich die Reward-Taste und spule an die Stelle zurück, an der ich erwähnte, dass ich das Gefühl hatte, mich mitten in einer Geschichte von J.R.R. Tolkien zu befinden. Ich fotografierte also eine Weile in diesem mystischen nebelverhangenen Wald und machte mich anschließend weiter auf zum Latschigfelsen, der ebenfalls im Nebel lag.

Am Latschigfelsen wurde ich von den anderen Drei eingeholt. Durch das Fotografieren kam ich nicht wirklich voran. Bis zur Wegscheidhütte trafen wir uns immer wieder und wechselten ein paar Worte miteinander. Kurz vor Forbach verpasste ich jedoch zunächst einmal ein Wegzeichen und nahm einen Umweg, auf dem ich glücklicherweise einen Brunnen fand. An diesem spülte ich meinen Topf und füllte meine Sigg-Flaschen auf. Ein paar tolle Fotomotive taten sich auch auf, was mich für die Extrakilometer entschädigte. Durch das Verlaufen sah ich das erste Mal auf dem Weg einige der kleinen Heuhütten, für die das Murgtal bekannt war. Die Idee der Heuhütten wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg von Tiroler Holzhauer aus den Alpen mitgebracht und erst seit dieser Zeit befinden sich diese in der Murgtalregion. Ein lokales Problem wurde durch ein "Produkt" der Globalisierung gelöst und entwickelte sich im Murgtal zur hiesigen Kultur. Interessant! Nun aber weiter zum Supermarkt, aus dem ich schnell wieder draußen sein wollte. Hat man sich einmal auf Natur eingegroovt, fühlt es sich seltsam an mit anderen Menschen durch einen Supermarkt zu schlendern. Irgendwie ist es ein notwendiges Übel, aber so richtig möchte man es nicht haben. Immerhin musste ich mir um den 1,5 Meter Sicherheitsabstand keine Sorgen machen. Aufgrund meines Geruchs, hielten die anderen Kunden einen freiwilligen Abstand von 5 Metern zu mir ein.



Nach Forbach erwartete mich dann einer der steilsten Anstiege der gesamten vier Tage. Es ging direkt hoch zur Wegscheid. Auf einer Strecke von ca. 4,2 km, ging es von 283 Hm auf 757 Hm hoch. Mit der Motivation am frühen Nachmittag in den kalten See springen zu können, suchte ich meinen Gehrhythmus und stieg ohne Stopp bis zum höchsten Punkt. Meine Oberschenkel- und Gesäßmuskulatur war anschließend ziemlich gut durchblutet. An der Wegscheid traf ich meine drei Hüttengefährten das letzte Mal. Wir verabschiedeten uns und sahen uns nicht wieder. An einem Brunnen füllte ich noch einmal mein Wasser auf und traf 30 Minuten später an meinem Ziel, der Jägerlochhütte, ein. Diese Hütte war verschlossen, besaß jedoch eine kleine Veranda, auf der ich die Nacht verbringen wollte. Sie lag hoch über dem Stausee und bot einen idyllischen Ausblick. Über einen kleinen Pfad gelangte man nach unten zum See.

Endlich, diesen Moment sehnte ich herbei. Handtuch und frische Unterwäsche bereit legen, stinkende Klamotten runter und auf ins kalte Wasser. Nach drei Tagen das erste Mal sauber. Herrlich! Unten am See hatte ich vor eine längere Pause zu machen und wollte dort meinem Nachmittagsritual nachkommen und Kaffee kochen. Leider verjagten mich ein paar Regentropfen und ich verschob das Ritual auf die windige Veranda der Hütte.



Eingepackt in die Daunenjacke und im Schlafsack sitzend, schlürfte ich den heißen Kaffee und aß Schweizer Bergkäse vom Discounter. Dieser schmeckte jedoch irgendwie nach langweiligem Edamer. Nach kurzer Enttäuschung versuchte ich mir vorzustellen, wie ich Edamer aß, der nach ein bisschen Bergkäse schmeckt und dachte: „Wow, das ist aber leckerer Edamer!“ Ein Perspektivwechsel verändert manchmal alles.

Gegen Abend kamen zwei junge Männer vorbei, die sich wohl immer einige Kilometer hinter mir befanden. Zwei Freunde. Der eine lebt in Berlin, der andere in Hamburg. Sie folgten dem Ruf eines Youtubers aus dem Schwarzwald, der in einem Video erwähnte, wie toll der Westweg sei. Die beiden waren ganz fasziniert vom Schwarzwald. Ich sagte ihnen, es würde noch besser werden, das sei nur der Anfang. Oben auf der Hornisgrinde würden sie bis nach Frankreich sehen können, sollte das Wetter passen. Am Feldberg sogar bis in die Alpen. Sie waren begeistert. Auf dem Weg zur Jägerlochhütte hatten sie schon eine halbe Flasche Rotwein geleert. Respekt! Wahrscheinlich wäre ich auf allen Vieren gekrochen, hätte ich das getan. Nach unserem kurzen Gespräch zogen sie weiter. Für mich war es Zeit zu Abend zu essen. Irgendwie seltsam, vor der Tour dachte ich, es gäbe jede Menge Zeit zu lesen. Drei Bücher hatte ich mir auf den eBook-Reader gepackt. Man(n) hatte aber immer etwas zu tun. Klamotten trocknen, das perfekte Camp einrichten, Kochen, Essen, Trinken, Topf reinigen, Fotos machen, ein paar Gedanken aufschreiben, die Natur beobachten, Kacken gehen, mit Fremden reden, mich mit einer Ente anfreunden, irgendetwas was man gerade brauchte wie blöd im Rucksack suchen, Hände aufwärmen, die Karte wälzen, nochmal einen Tee kochen, pinkeln gehen, danach wieder die Hände aufwärmen, usw. Letztendlich kam ich viel weniger zum Lesen als ich im Vorfeld annahm.


Gegen 20.30 Uhr lag ich im Schlafsack. Hier auf der Veranda zog wirklich ein fieser Wind durch und ich zog die Kapuze meines Daunenschlafsacks zu, bis nur noch Mund und Nase rauschauten. Es half nichts, mein Windschutz war zu dilettantisch gespannt. Um 23:00 Uhr stand ich mit der Stirnlampe nochmal auf, kroch auf der Veranda herum und zog eine Seite der Plane tiefer. Schnell wieder in die Wärme des Schlafsacks. Die nächste Böe wurde abgefangen. Tschaka! Einige Zeit lag ich noch wach und musste an den Wolf „GW852m“ denken, der in dieser Gegend lebt. Hier draußen zu übernachten und gleich um die Ecke streift möglicherweise ein Wolf durch den Wald, ist eine spannende Vorstellung. Mit diesem Gedanken schlief ich dann friedlich ein.



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